Und doch war Voldemort der eigentliche Grund, warum Harry uberhaupt zu den Dursleys gekommen war. Ohne Voldemort hatte Harry nicht die Blitznarbe auf seiner Stirn. Ohne Voldemort hatte Harry noch seine Eltern…

Harry war ein Jahr alt gewesen in jener Nacht, als Voldemort – der machtigste schwarze Magier seit einem Jahrhundert, ein Zauberer, der elf Jahre lang stets seine Macht gemehrt hatte – in ihr Haus gekommen war und seinen Vater und seine Mutter getotet hatte. Daraufhin hatte Voldemort seinen Zauberstab gegen Harry gerichtet; er hatte den Fluch ausgesprochen, mit dem er viele gestandene Hexen und Zauberer auf seinem unaufhaltsamen Weg nach oben beseitigt hatte – doch unfa?licherweise hatte der Fluch bei ihm nicht gewirkt. Statt den kleinen Jungen zu toten, war der Fluch auf Voldemort zuruckgefallen. Harry hatte uberlebt und nur eine blitzformige Narbe auf der Stirn zuruckbehalten, und Voldemort war auf etwas zusammengeschrumpft, das kaum noch Leben in sich hatte. Seiner Zauberkrafte beraubt, das Leben in ihm fast erloschen, war Voldemort geflohen; die Schreckensherrschaft, unter der die geheime Gemeinschaft der Hexen und Zauberer so lange gelebt hatte, war zusammengebrochen. Voldemorts Anhanger hatten sich zerstreut und Harry Potter war beruhmt geworden.

Mit einem gewaltigen Schreck hatte Harry an seinem elften Geburtstag herausgefunden, da? er ein Zauberer war; und die Entdeckung, da? sein Name in der verborgenen Zaubererwelt allbekannt war, beunruhigte ihn noch mehr. Bei seiner Ankunft in Hogwarts mu?te er feststellen, da? sich uberall, wo er auftauchte, die Kopfe wandten und Getuschel ihm auf Schritt und Tritt folgte. Doch inzwischen hatte er sich daran gewohnt: Ende des Sommers wurde er sein viertes Schuljahr in Hogwarts beginnen und er zahlte bereits die Tage bis dahin.

Doch noch waren es zwei Wochen bis zu seiner Ruckkehr nach Hogwarts. Er sah sich noch einmal ratlos in seinem Zimmer um, und sein Blick blieb an den Geburtstagskarten hangen, die seine beiden besten Freunde ihm Ende Juli geschickt hatten. Was wurden sie sagen, wenn er ihnen schriebe und von seiner schmerzenden Narbe berichtete?

Schon hallte Hermine Grangers Stimme in seinem Kopf wider, schrill und voller Panik:

»Deine Narbe tut weh? Harry, damit ist nicht zu spa?en… Schreib an Professor Dumbledore! Und ich werd auf der Stelle in ›Magische Hauskrankheiten und Gebrechen‹ nachsehen… Vielleicht steht da was uber Fluchnarben drin…«

Ja, das wurde Hermine raten: Geh sofort zum Schulleiter von Hogwarts und schlag vorher am besten noch in einem Buch nach. Harry blickte durch das Fenster auf den mit konigsblauen Schleiern uberzogenen Morgenhimmel. Er hatte gro?e Zweifel, ob ein Buch ihm jetzt helfen wurde. Soweit er wu?te, war er der einzige Mensch, der einen Fluch wie den Voldemorts uberlebt hatte; deshalb war es hochst unwahrscheinlich, da? er seine Leiden in Magische Hauskrankheiten und Gebrechen wiederfinden wurde. Und was den Schulleiter anging, so hatte Harry keine Ahnung, wo Dumbledore in den Sommerferien hinfuhr. Einen Moment lang belustigte ihn die Vorstellung, da? Dumbledore mit seinem langen Silberbart, dem langen Zaubererumhang und dem Spitzhut irgendwo an einem Strand lag und sich Sonnenol auf die lange Adlernase rieb. Allerdings, wo immer Dumbledore auch war, Hedwig wurde ihn sicher finden; Harrys Eule hatte es bisher noch immer geschafft, ihre Briefe zu uberbringen, sogar ohne Adresse. Doch was sollte er schreiben?

Lieber Professor Dumbledore, Verzeihung, da? ich Sie belastige, doch heute Morgen hat meine Narbe wehgetan. Mit freundlichen Gru?en, Harry Potter

Selbst in seinem Kopf klangen diese Worte albern.

So versuchte er sich vorzustellen, was Ron, sein anderer bester Freund, sagen wurde, und schon tauchte vor Harrys Augen Rons lange Nase und sein sommersprossiges Gesicht mit nachdenklicher Miene auf.

»Deine Narbe tut weh? Aber… aber Du-wei?t-schon-wer kann doch gar nicht in deiner Nahe sein, oder? Im Ernst… das wurdest du doch merken? Er wurde wieder versuchen dich zu erledigen, meinst du nicht? Ich wei? nicht, Harry, vielleicht zwicken Fluchnarben immer ein wenig… ich frag mal Dad…«

Mr Weasley war ein voll ausgebildeter Zauberer, der in der Abteilung gegen den Mi?brauch von Muggelartefakten im Zaubereiministerium arbeitete, doch soviel Harry wu?te, war er in Sachen Fluche nicht einschlagig bewandert. Jedenfalls behagte Harry die Vorstellung nicht, die ganze Familie Weasley wurde erfahren, da? er, Harry, schon wegen ein paar Wehwehchen nervos wurde. Mrs Weasley wurde einen noch gro?eren Aufstand machen als Hermine, und Fred und George, Rons sechzehnjahrige Zwillingsbruder, dachten womoglich noch, Harry wurde die Nerven verlieren. Die Weasleys waren fur Harry die tollste Familie der Welt; er hatte die Hoffnung, da? sie ihn schon bald zu sich einluden (Ron hatte etwas von der Quidditch-Weltmeister-schaft erwahnt), und irgendwie wollte er nicht, da? sein Aufenthalt mit besorgten Nachfragen zu seiner Narbe gestort wurde.

Harry massierte seine Stirn mit den Handknocheln. Was er wirklich wollte (und er schamte sich beinahe, es sich selbst einzugestehen), war so etwas wie eine Mutter oder einen Vater: ein erwachsener Zauberer, dessen Rat er erfragen konnte, ohne sich blod vorzukommen, jemand, der ihn gern hatte und der Erfahrung hatte mit schwarzer Magie… Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war so einfach und so offensichtlich, da? er kaum fassen konnte, wie lange er gebraucht hatte – Sirius.

Harry sprang vom Bett, sturzte durchs Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch; er zog ein Blatt Pergament zu sich her, fullte seine Adlerfeder mit Tinte und schrieb: Lieber Sirius, hielt inne und uberlegte, wie er sein Problem am besten ausdrucken konnte. Warum, so wunderte er sich immer noch, hatte er nicht sofort an Sirius gedacht? Doch wenn er genauer uberlegte, war es vielleicht gar nicht so merkwurdig – schlie?lich hatte er erst vor zwei Monaten herausgefunden, da? Sirius sein Pate war.

Es gab einen einfachen Grund, warum Sirius bis dahin in Harrys Leben uberhaupt nicht aufgetaucht war – Sirius hatte in Askaban gesteckt, dem schrecklichen Zauberergefangnis, das von Dementoren genannten Wesen bewacht wurde, blinden, Seelen saugenden Finsterlingen, die dann nach Hogwarts gekommen waren, um den entflohenen Sirius zu suchen. Doch Sirius war unschuldig – die Morde, fur die er verurteilt worden war, hatte Wurmschwanz begangen, Voldemorts Helfer, den jetzt fast alle fur tot hielten. Harry, Ron und Hermine wu?ten es jedoch besser; letztes Jahr waren sie Wurmschwanz von Angesicht zu Angesicht begegnet, doch nur Professor Dumbledore hatte ihnen diese Geschichte abgenommen.

Eine wunderbare Stunde lang hatte Harry geglaubt, endlich die Dursleys verlassen zu konnen, denn Sirius hatte ihm ein Zuhause angeboten, sobald sein Name rein gewaschen war. Doch diese Chance war ihm wieder geraubt worden – Wurmschwanz war entkommen, bevor sie ihn zum Zaubereiministerium hatten bringen konnen, und Sirius mu?te fliehen, um sein Leben zu retten. Harry hatte ihm geholfen, auf dem Rucken eines Hippogreifs namens Seidenschnabel zu entkommen, und seither war Sirius auf der Flucht. Der Gedanke an ein Zuhause, das Harry vielleicht gewonnen hatte, wenn Wurmschwanz nicht entkommen ware, hatte ihn den ganzen Sommer uber nicht losgelassen. Mit der Vorstellung im Kopf, den Dursleys um ein Haar fur immer entkommen zu sein, war es Harry besonders schwer gefallen, zu ihnen zuruckzukehren.

Und doch hatte Sirius Harry in manchem geholfen, auch wenn er nicht bei ihm sein konnte. Dank Sirius hatte Harry jetzt all seine Schulsachen bei sich im Zimmer. Die Dursleys hatten ihm das noch nie zuvor erlaubt; sie hatten immer gewollt, da? es Harry so elend wie moglich ginge, und zugleich Angst vor seinen Fahigkeiten gehabt, deshalb hatten sie seinen Schulkoffer bisher im Schrank unter der Treppe eingeschlossen. Doch ihre Haltung hatte sich geandert, als sie herausgefunden hatten, da? Harrys Pate ein gefahrlicher Morder war – Harry hatte bequemerweise vergessen ihnen zu sagen, da? Sirius unschuldig war.